In meiner 6. Klasse gingen die Schülerinnen und Schüler mit dem Thema Schreibbuch sehr unterschiedlich um. Einige stürzten sich begeistert darauf, froh endlich einmal schreiben zu können, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Andere ...

freuten sich auch, dass sie mal andere Formen ausprobieren konnten und nicht immer Texte im herkömmlichen Sinne verfassen mussten.

Es entstanden "To-Do-Listen", Top-Ten-Listen der angesagtesten Nagellackfarben, was eine beste Freundin alles haben muss und welche Automarken es alles gibt. Aber auch kleine Gedichte und relativ schnell auch kleine Geschichten, an denen dann im Laufe der Zeit gefeilt wurde.

Für einige jedoch müssen die ersten Wochen mit dem Schreibbuch genau das Gegenteil bedeutet haben. Ein Junge meiner Klasse schien an dem kleinen Buch mit den vielen leeren Seiten schier zu verzweifeln. LRS-geplagt und mit geringer Aufmerksamkeitsspanne bestückt, verbrachte er Stunden damit, halbherzig ein paar Sätze aufzuschreiben, über Ideenlosigkeit zu klagen oder ganz angestrengt und ausgiebig zu "überlegen", was er denn als nächstes schreiben könnte. Es kam leider nicht viel für ihn dabei herum. Was nun? An Autorenrunden beteiligte er sich durchaus, aber wenn es darum ging selbst etwas zu verfassen, kam die große Leere über ihn. Kurz vor Weihnachten fasste ich zusammen mit einer Kollegin, die einmal die Woche den Deutschunterricht verstärkte, den Entschluss, dass jemand die Ideen oder Geschichten dieses Schülers für ihn aufschreiben müsste. Sie schnappte sich also den besagten Kandidaten, setze sich mit ihm zusammen und er erzählte ihr zunächst einmal, was er denn für eine Idee für eine Geschichte hatte.

Dann ließ die Kollegin sich die Geschichte von dem Schüler diktieren und half ihm bei einigen Formulierungen. DIe Geschichte hatte durchaus Hand und Fuß und, was viel wichtiger war, sie war total durchdacht und logisch aufgebaut. Das Ergebnis war eine kurze Weihnachtsgeschichte. Für die Aufgabe sie daraufhin auf ein Schmuckblatt zu schreiben, nahm der Schüler sich Zeit und Ruhe und war schließlich der erste, der seinen Text für unser "Beste Texte Buch" fertig hatte. "Was soll ich denn jetzt machen?", fragte er mich. Ich eröffnete ihm, dass er ja über einen weiteren Text nachdenken könnte, der in einem weiteren "Beste Texte Buch" landen würde.

Ich erwartete Ablehnung und erneute Ratlosigkeit seinerseits. Aber irgendwie fing er aufeinmal einfach an zu schreiben. Er hatte Ideen und seine Seiten füllten sich langsam aber sicher. Er fing mit einer Geschichte an und kam in regelmäßigen Abständen zu mir, gab mir sein Schreibbuch zu lesen und wartete gespannt auf meine Reaktion. Seine Phantasie war beflügelt und ich schaute ihn mit großen und erstaunten Augen an und musste über einige Wörter und Sätze richtig lachen. Das Schriftbild immer noch gruselig und von der Rechtschreibung gar nicht zu sprechen, schaffte er es Ideen zu Papier zu bringen. Und nicht nur das! Er wollte Anregungen aufgreifen und versuchte sie einzuarbeiten. Er las seine Geschichte auch zu Hause den Eltern vor und wollte seinen Text unbedingt in einer Autorenrunde präsentieren. Also trug er sich in die dafür vorgesehene Liste in unserer Klasse ein. Bei der nächsten Autorenrunde war er nicht der erste auf der Liste und so kam es, dass der Schüler während die Texte seiner Mitschüler vor ihm besprochen wurden, mit einem Blick auf die Uhr absehen konnte, dass sein Text in dieser Autorenrunde wohl nicht vorgelesen und besprochen werden würde.

Kurz vor Ende der Stunde (ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass es sich um einen Freitag handelte, die letzte Stunde vor dem wohlverdienten Wochenende!) meldete sich der Schüler und fragte in die Runde, ob es in Ordnung sei, wenn er noch etwas länger bliebe, um seine Geschichte vorzulesen und ob einige vielleicht auch noch bleiben würden, um die Geschichte mit ihm zu besprechen. Es meldeten sich spontan 10 bis 11 Kinder, die natürlich in den Stunden davor schon am Rande mitbekommen hatten, um was für eine "wilde" Geschichte es sich handeln musste. Das wollten sie sich nicht entgehen lassen und so kam es, dass ich in mein wohlverdientes Wochenende ging, während die Hälfte meiner Klasse noch eine exklusive Autorenrunde abhielt. Emoji

Julia Zierenberg, Kollegin und Teilnehmerin eines Arbeitskreises